Dreier / Waldhoff: „Das Wagnis der Demokratie“

Sogar Tucholsky fand die Weimarer Verfassung gut

Von Ulrike Ackermann

Beitrag hören Podcast abonnieren

Im Vordergrund des Covers von
Nein, die Weimarer Republik ist nicht an ihrer Verfassung gescheitert, sagen Horst Dreier und Christian Waldhoff. Auch wenn Kurt Tucholsky sie gelobt hat. (picture alliance / akg; C.H.Beck)

War die Weimarer Verfassung mit Schuld am Untergang der ersten deutschen Demokratie? „Das Wagnis der Demokratie“ beleuchtet ihre Stärken und Schwächen. „Ganz vorzüglich“ immerhin nannte der Schriftsteller und Jurist Kurt Tucholsky die Staatsordnung.

„Und wie um die Geschichte Lügen zu strafen und um zu zeigen, dass gerade das deutsche Volk mit der Freiheit sehr wohl etwas anzufangen weiß, hat es sich eine Verfassung gegeben, die wirklich sehr freiheitlich zu lesen ist. Was darin über Grundrechte des Individuums bestimmt ist, ist teilweise ganz vorzüglich und kann nicht gut freiheitlicher sein.“

So lobte der promovierte Jurist Kurt Tucholsky in der linken „Weltbühne“ die 1919 verabschiedete Weimarer Verfassung. Auch wenn fortan die Staatsgewalt vom Volke ausging, geißelte er später den „Verfassungsschwindel“, nämlich das zunehmende Auseinanderklaffen von Verheißung und Wirklichkeit.

Auch der bürgerlich-liberale Philosoph Ernst Cassirer mahnte in seinen Festvorträgen zum Jahrestag der Verfassung immer wieder das politische Engagement der Bürger für das Gemeinwesen, ihr tätiges Mitwirken, Mitarbeiten und Mitleben an: Das sei die eigentliche Herausforderung dieser Verfassung.

In dem erhellenden Band über „Das Wagnis der Demokratie. Eine Anatomie der Weimarer Reichsverfassung“, herausgegeben von den Staatsrechtlern Horst Dreier und Christian Waldhoff, sind sich die Autoren einig darüber, dass die Weimarer Republik nicht an ihrer Verfassung gescheitert ist, und der Weg zu Hitlers Machtergreifung und der nationalsozialistischen Diktatur keine Zwangsläufigkeit war.

Verfassung wollte die Traumata der Revolutionszeit heilen

Die Historiker Christopher Clark und Oliver Haardt rekonstruieren eingangs die dreifache Krise, in der Deutschland damals steckte: die Erfahrungen der Kriegsniederlage, die Demütigung des Versailler Vertrags, die von gewaltsamen Aufständen und Straßenkämpfen gezeichnete politische Instabilität und Stärke der Rechts- und Linkradikalen.

Man erinnere sich: die Berliner Spartakusaufstände, die bayrische Räterepublik, der Kapp-Putsch als versuchter Staatstreich von rechts und die Ermordung der KPD-Führer Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg 1919. Bereits kurze Zeit nach Inkrafttreten der Verfassung verlor die demokratische Mitte, die sie kreiert hatte, immer mehr an Einfluss.

Die Mütter und Väter der Verfassung wollten eine Antwort auf das Trauma der Revolutionszeit geben. So entstand gewissermaßen ein Klassenkompromiss, der das Recht auf Arbeit ebenso enthielt wie den Schutz des Eigentums und marktwirtschaftlicher Prinzipien. Den Frauen wurde darin erstmals das Wahlrecht zuerkannt – Freiheit und Gleichheit als Voraussetzung einer Republik. Die Juristin Pascale Cancik betont in ihrem Beitrag:

„Die eigentliche Revolution aber waren die zaghaften Ansätze zur Gleichberechtigung in weiteren Verfassungsnormen. Sie wurden zu einem Ausgangspunkt für die langsame Durchsetzung von gleichen Rechten für Männer und Frauen.“

So fortschrittlich die Weimarer Verfassung auch war, ließ sie doch unterschiedliche Entwicklungswege zu. Sie wollte die bürgerkriegsähnlichen Zustände mit einem republikanischen System befrieden, das repräsentative und plebiszitäre Elemente vereinte. Ein vom Volk direkt gewählter Präsident sollte ein Gegengewicht zu dem von Parteiinteressen bestimmten Parlament sein. So entstand ein Spannungsverhältnis zwischen Präsident, Reichstag und Regierung.

Das Parlament erfüllte seine Aufgabe nicht

Zwischen 1919 und 1933 waren die im Reichstag vertretenen zehn, später 13 Parteien außerstande, stabile Mehrheitskoalitionen zu bilden. Minderheitsregierungen waren die Regel, der Reichspräsident hatte einen maßgeblichen Einfluss auf die Regierungsbildung und der Reichstag wurde des öfteren aufgelöst. 1930 bis 1932 regierte eine vom Reichstag geduldete Präsidialregierung, die die parlamentarisch gewählte abgelöst hatte. Bemerkenswert war, wie leichtfertig der Reichstag immer wieder durch sogenannte Ermächtigungsgesetze der Regierung die politische Verantwortung überließ.

Es war ein tragisches Wechselspiel: die Schwäche des Parlaments erforderte präsidiales Regieren, was aber das Parlament weiter schwächte. Der Reichspräsident geriet dabei zu einem politischen Organ, das sukzessive an die Stelle des Parlaments trat. Friedrich Ebert verantwortete in seiner Amtszeit 136 präsidiale Notverordnungen, wenn auch im Einvernehmen mit der jeweiligen Reichsregierung. Und zum Schluss hatten verfassungsfeindliche Parteien die Mehrheit errungen.

„Die Weimarer Republik, belastet durch Versailles und dann die Wirtschaftskrise, durch einen nachrevolutionären Riss, der das Volk in zwei, wenn nicht mehr Lager teilte, durch das Unverständnis der Parteien für ihre Aufgabe, durch die Weigerung eines beträchtlichen Teils der Eliten, die neuen Verhältnisse als gegeben anzunehmen – diese Weimarer Republik (…) hätte mit jeder Verfassung scheitern können und musste mit keiner scheitern.“

So der Politikwissenschaftler Peter Graf Kielmansegg. Die Krise und der Bedeutungsverlust der Volksparteien heute, das Wegschmilzen der politischen Mitte zugunsten rechter und linker populistischer Kräfte hat die Erinnerung an Weimarer Verhältnisse wieder auf den Plan gerufen.

Wir sind jedoch in Fortführung der Weimarer Verfassung mit unserem Grundgesetz für mögliche Turbulenzen gut gerüstet – so lange Bürger und Parteien die Errungenschaften der liberalen Demokratie, ihre Institutionen und Procedere wertschätzen und bereit sind, sie zu verteidigen.