Das Schweigen der Mitte – Ein Webtalk mit Ulrike Ackermann

19.08.2020 – plus.freiheit.org

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Wenn die Demokratie in der Krise steckt und der gesellschaftliche Zusammenhalt bröckelt, geht es ans Kerngeschäft der Intellektuellen. Doch die hitzigen Debatten münden in fatale Polarisierungen. Kapitalismus oder Antikapitalismus, Migration oder Abschottung, Faschismus oder Antifaschismus – Zwischentöne sind selten geworden, sagt die Politikwissenschaftlerin und Soziologin Prof. Dr. Ulrike Ackermann. Wichtige Kontroversen über die politische Vertrauenskrise, Elitenversagen und Meinungsfreiheit werden nicht aus der politischen Mitte heraus geführt, sondern entzünden sich von den Rändern her. In ihrem neuen Sachbuch plädiert Ackermann für eine Rückbesinnung auf antitotalitäre und liberale Traditionen, um die politische Mitte intellektuell neu zu besetzen.

Die Gesellschaft reibt sich auf in immer neuen Kollektiven

Die Gesellschaft reibt sich auf in immer neuen Kollektiven
18.07.2020 – nzz.ch

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Unsere westliche Lebensweise scheint zu regredieren: weg vom Ideal des autonomen, selbstbestimmten, aufgeklärten Individuums und wachen Staatsbürgers hin zum Stammesdenken und zur Bildung von Horden mit gefeierten Anführern.

Es gab im erschrockenen Schweigen und Stillstand während der Corona-Krise für einen Moment die Hoffnung auf ein Ende polarisierender Debatten und stattdessen die Besinnung auf das, was wichtig ist. Das sind natürlich auch Zustände anhaltender Diskriminierung und fortwährenden Rassismus, auf die unter anderem die «Black Lives Matter»-Bewegung aufmerksam macht.

Doch der Protest ist längst aus dem Ruder gelaufen und favorisiert besonders im akademischen und im kulturellen Feld Forderungen, die am Fundament und am Selbstverständnis unserer freiheitlichen Ordnung rütteln. Sie knüpfen an ideologische Prämissen an, die schon länger die Selbstzweifel hinsichtlich der Erfolgsgeschichte unserer Zivilisation schürten und teilweise in einen westlichen Selbsthass mündeten. Er ist nicht nur rechten und linken Rändern eigen, sondern zunehmend auch in Universitäten, Redaktionsstuben und Kulturinstitutionen beheimatet. Und dies in einer Situation, in der die über Jahrhunderte mühsam errungenen westlichen Freiheiten und Lebensweisen weltweit unter immer stärkeren Druck geraten sind. In den USA und Europa werden von Demonstranten nicht nur Südstaatengeneräle und Profiteure des Kolonialismus und des Sklavenhandels vom Sockel gestürzt. Der militante Bildersturm macht auch vor Christoph Kolumbus oder Winston Churchill nicht halt.

Man will es allen recht machen

Der antirassistische Furor erinnert in seiner Rigidität an den Tugendterror der Jakobiner in der Französischen Revolution, die mit allem Alten brechen und das Vergangene radikal ausmerzen wollten. Bereits seit einigen Jahren tobt dieser Kulturkampf, der immer aberwitzigere Züge annimmt. Historische Bücher werden umgeschrieben, weil das Wort «Negerkönig» anstössig ist. Die Diskurspolizei ist auch an den Universitäten unterwegs. Alte Filme werden aus dem Verkehr gezogen, weil sie aus heutiger Sicht rassistisch sind. Berühmte Bilder werden abgehängt, weil sie sexistisch seien – obwohl sie doch gerade historisch bezeugen, was sich über die Jahrhunderte weiterentwickelt hat.

Es sind Eingriffe zugunsten eines vermeintlich gerechten, politisch korrekten Regimes, das es jeder Ethnie, jedem Geschlecht und jeder Religion recht machen will. Der Wunsch nach Eindeutigkeit und Einheitlichkeit, nach Reinheit und Reinigung hat sich in unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern ausgebreitet. Verletzte Gefühle einer Gruppe wiegen plötzlich schwerer als die Prinzipien und die Ausübung der Kunst-, Wissenschafts- und Meinungsfreiheit. Obwohl doch gerade sie Antrieb und Resultat eines jahrhundertelangen Kampfes waren und als hohe Güter unsere Lebensweise auszeichnen.

Inzwischen steht auch schon der Aufklärer Immanuel Kant wegen Rassismus am Pranger, weil er in seinen Frühschriften wie andere seiner Zeitgenossen die weisse «race» als vollkommenste der Menschheit ansah. Eine «Kritik der weissen Vernunft» wird deshalb angemahnt. Doch dem späteren Kant verdanken wir gerade die wegweisende Definition von Mündigkeit und die Entfaltung dessen, was die Würde des einzelnen Menschen ausmacht.

Der Ausgang aus der «selbstverschuldeten Unmündigkeit» war die Selbstermächtigung des Individuums, mit dem Ziel seiner Emanzipation aus kollektiven Zwängen, flankiert von Solidarität und Gemeinsinn. Die Errungenschaft aus dieser zivilisatorischen Leistung über Jahrhunderte hinweg war die Gleichheit jedes Einzelnen vor dem Recht – gerade unabhängig von Hautfarbe, ethnischer Herkunft, Geschlecht oder Religion. Diese Ideale aus der amerikanischen und der Französischen Revolution sind bis heute nicht vollständig eingelöst, aber immer noch treibende Kraft für die Ausweitung der Chancengerechtigkeit.

Neue soziale Bewegungen

Inzwischen scheint unsere Gesellschaft allerdings auf eine frühere Stufe ihrer Entwicklung zu regredieren, weg vom Ideal des autonomen, selbstbestimmten, aufgeklärten Individuums und wachen Staatsbürgers hin zum Stammesdenken und zur Bildung von Horden mit gefeierten Anführern. In den sich selbst bestätigenden Communitys, verstärkt durch die neuen Medien, ist ein besorgniserregender Rückfall in den Tribalismus zu beobachten. Die Gesellschaft zersplittert in immer neue Kollektive, die für ihre partikularen Gruppeninteressen kämpfen.

Die Identitätspolitik der Rechten favorisiert einen Kollektivismus, der sein Heil in der ethnischen Homogenität der Volksgemeinschaft sieht und die universalistischen Prinzipien der Aufklärung verwirft. Antiwestlich und antiliberal geriert sich aber auch eine Identitätspolitik von links, die an den Hochschulen und im Kulturbetrieb Raum gegriffen hat.

Eigentlich begann es im Zuge der neuen sozialen Bewegungen ab den 1970er Jahren durchaus emanzipatorisch. Mutig schlossen sich Frauen und soziale Minderheiten zusammen, um für ihre Rechte einzutreten. Sie machten auf historische und gegenwärtige Benachteiligungen aufmerksam und begehrten auf gegen Sexismus und Rassismus. Doch dann breitete sich mit dem Lob der kulturellen Vielfalt und Differenz ein ideologisch gewordener Multikulturalismus aus, der die freiheitlichen Errungenschaften der westlich-europäischen Zivilisation zunehmend relativierte. Immer neue soziale Gruppen, die sich als Opfer von gesellschaftlicher Diskriminierung verstanden, entwickelten ihre jeweils unterschiedlichen Opfernarrative und forderten besondere Rechte für sich. Eine regelrechte Opferkonkurrenz entstand. Ihr jeweiliger Bezugspunkt ist eine kollektive Identität, die abgeleitet wird aus realer oder vermeintlicher Benachteiligung, der Erfahrung von Unterdrückung oder Verfolgung, die teilweise Jahrhunderte zurückliegen: Frauen, sexuelle Minderheiten, die LGBT-Community, Migranten, ethnische und religiöse Minderheiten. Es geht dabei um Wiedergutmachung erfahrenen Leids und den Wunsch nach sozialer und kultureller Wertschätzung.

Entstanden ist daraus über die Jahrzehnte eine ausgeprägte Identitätspolitik, die ausdrücklich die jeweils kollektive religiöse, kulturelle, sexuelle und ethnische Zugehörigkeit ins Zentrum stellt. Nicht für Individuen werden Rechte eingefordert, sondern für die jeweiligen Opferkollektive, die Sonderrechte beanspruchen, um bisherige gesellschaftliche und historische Benachteiligung zu kompensieren. Aus den ehemals emanzipatorischen Bestrebungen sind identitäre Communitys entstanden, die ihre Anliegen ideologisiert haben und einen moralisierenden Feldzug gegen die sogenannte Mehrheitsgesellschaft führen.

Polarisierung durch Täter- und Opferkategorien

Wenn ständig in Täter- und Opferkategorien gedacht und agitiert wird, schwindet der gesellschaftliche Zusammenhalt immer mehr und leistet weiterer Polarisierung Vorschub.

Paradoxerweise wird der wohlfeile Antikolonialismus und Antirassismus selbst rassistisch, wenn er die ethnische Herkunft und die Hautfarbe zum essenziellen, identitätsstiftenden Zugehörigkeitskriterium der von der Mehrheitsgesellschaft vorgeblich diskriminierten Opferkollektive macht.

Erschreckend sind zudem die Rigidität und die Wut, die den Wunsch nach Reinigung begleiten: Sprache, Geschichte, Bücher, Plätze, Erinnerung sollen von allem Bösen gesäubert werden. Das ursprüngliche Ansinnen ist totalitär geworden und wäre letztlich eine Entsorgung der Vergangenheit.

Der «Schuldkomplex» (Pascal Bruckner) verleitet angesichts der Greuel des Kolonialismus und der Sklaverei die Mehrheitsgesellschaft zu paternalistischer Überkompensation gegenüber den nachgeborenen «Opfern» – angetrieben vom Wunsch, die Schuld zu tilgen. Vermeintliche Täter und vermeintliche Opfer bleiben so in einer reziproken, komplizenhaften Dynamik gefangen, die einer sachlichen Aufarbeitung der Geschichte im Wege steht.

Die Erfolgsgeschichte der westlichen Zivilisation hat uns über die Jahrhunderte den besten Lebensstandard, den wir je hatten, beschert, Partizipation und Freiräume erweitert. Freilich begleitet von grauenhaften Kämpfen, Katastrophen, Diktaturen, kolonialen Verbrechen, vielen Irrtümern und Inkonsequenzen. Wir können diese widersprüchliche Geschichte nicht glattbügeln oder retuschieren. Wir müssen mit ihr leben. Denn Immanuel Kant wusste: «Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden.»

Interview mit Freiheitsforscherin zu „Hygiene-Demos“ – „Viele sind Wutbürger im schlimmsten Sinne – aber müssen ernst nehmen, dass Unmut wächst“

Interview mit Ulrike Ackermann,
Online Focus – Perspektiven, den 12.05.2020

Beitrag lesen: https://www.focus.de/perspektiven/hygiene-demos-einige-sind-wutbuerger-im-schlimmsten-sinn-andere-muessen-wir-ernst-nehmen_id_11979538.html

Im Rahmen sogenannter „Hygiene-Demos“ gingen Tausende Menschen in deutschen Städten am Wochenende gegen die Corona-Politik von Bund und Ländern auf die Straße. Die einen stellen sich gegen eine vermeintliche „Impfpflicht“, andere vermuten hinter den strengen Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus eine politische Verschwörung. Die Ressentiments in der Bevölkerung wachsen.

Ulrike Ackermann ist Politikwissenschaftlerin, Soziologin und Gründerin des John Stuart Mill Instituts für Freiheitsforschung. Im Gespräch mit FOCUS Online spricht sie über die Zusammenhänge der „Hygiene-Demos“ mit Pegida und den Gelbwesten-Protesten in Frankreich und wie die Protestierenden durch ihre Demonstrationen andere gefährden – aber auch über Wege, solche Eskalationen zukünftig einzudämmen und warum wir die Zukunftsängste einiger ernst nehmen sollten.

FOCUS Online: Bei den sogenannten „Hygiene-Demos“ versammelt sich derzeit eine breite Allianz: Rechte Reichsbürger verbreiten ihre kruden Geschichtstheorien, linke Verschwörungstheoretiker vermuten die staatliche Totalüberwachung, Impfgegner warnen vor Mikro-Chips, die uns Bill Gates vermeintlich implantieren will, aber auch Unpolitische und Gemäßigte sind darunter – was ist den Demonstranten aus Ihrer Sicht gemein? Wie kommt es dazu, dass diese unterschiedlichen Gruppierungen gemeinsam demonstrieren?

Ackermann: Ein Motiv, das alle eint, ist mit Sicherheit Angst. Andere Motive mischen sich dazu – die klassische Globalisierungskritik, die Kapitalismuskritik, die Rechte und Linke schon viel länger eint. Dass sich linke autonome Gruppen durchaus mit ihren Parolen mit Pegida-Anhängern und AfD-Parolen überschneiden, das hatten wir in früheren gesellschaftlichen Debatten auch schon.

„Angst, dass der Staat übergriffig wird“

FOCUS Online: Um welche Angst geht es konkret?

Ackermann: Die Angst vor der Zukunft. Ein Punkt ist ganz klar: Wir haben noch nie solche Einschränkungen unserer Freiheitsrechte – wie Bewegungs- oder Versammlungsfreiheit – erlebt. Das widerspricht natürlich unserem Grundverständnis einer liberalen Demokratie. Dass einige Angst haben, dass der Staat übergriffig wird und Verordnungen durchsetzt, die längere Zeit gelten könnten, darüber müssen wir debattieren.

Aber wir sind in einer außergewöhnlichen Situation. Ich halte diese Einschränkungen für vertretbar. Allerdings müssen sie begründet werden – immer wieder neu, auch auf ihre Wirksamkeit hin. Es muss eine breite gesellschaftliche Diskussion über die Verhältnismäßigkeit dieser Maßnahmen stattfinden. Das ist die Grundlage.

Dennoch: Eigentlich gehört die Versammlungsfreiheit ja zu den Rechten, die momentan eingeschränkt werden. Nur unter Auflagen werden Demonstrationen zugelassen. Aber das, was wir in den letzten Tagen beobachtet haben, sind zum Teil unangemeldete Demonstrationen – verbunden mit Angriffen auf Polizisten und Pressevertreter. Das geht überhaupt nicht.

FOCUS Online: Also sind die Demonstranten keine Verteidiger der Demokratie?

Ackermann: Nein, das sehe ich überhaupt nicht. Wer sich die Parolen genau anschaut und auch die Art und Weise ihres Auftretens, erkennt, dass das keine Verteidiger der Demokratie sind. Wer sich aus Protest massenhaft zusammenklumpt, keine Maske trägt und dadurch riskiert, dass sich das Virus überträgt, der schadet anderen.

Und zu unseren Freiheitsrechten gehört, dass man andere nicht schädigt. Allein mit diesem Auftreten schaden die Demonstranten anderen – noch bevor irgendwer einen Polizisten oder Pressevertreter angegriffen hat. Das sind Straftaten, die geahndet werden müssen. Das sind für mich dann Wutbürger im schlimmsten Sinne des Wortes.

Es braucht eine breite gesellschaftliche Debatte

FOCUS Online: Das heißt, einen Teil der Ängste und Sorgen und vor allem Verschwörungstheorien und das daraus resultierende Verhalten gilt es zu verurteilen – aber es gibt auch Aspekte, die ernst genommen werden sollten.

Ackermann: Ganz genau. Um der Tatsache zu begegnen, dass es auch zu solchen Polarisierungen und Ausfällen kommt, muss eine breite gesellschaftliche Debatte stattfinden. Das Krisenmanagement der Regierung darf und soll auch kritisiert werden.

FOCUS Online: Viele andere Länder blicken neidisch nach Deutschland, weil hier die Eindämmung des Virus bislang besser funktionierte als anderswo – gleichzeitig demonstrieren Tausende dagegen, dass sie sich in ihrer Freiheit beschränkt fühlen. Wie passt das zusammen? Woher rührt dann dieser Zorn einiger?

Ackermann: Es sind einerseits unsägliche Verschwörungstheorien und Antisemitismus, der böse Kapitalismus und so weiter worauf das beruht. Auch das Misstrauen gegenüber der Wissenschaft und gegenüber Fakten sind eine Ursache dieses Zorns. Auf der anderen Seite haben wir das Problem, dass durchaus Fehler gemacht worden sind. Am Anfang wurde die Pandemie beispielsweise auch von unserem Gesundheitsminister Jens Spahn kleingeredet und verharmlost. Wir haben noch immer nicht genügend Masken und noch keine breiten Tests – womit wir endlich harte, empirische Zahlen hätten, um Voraussagen machen zu können. Und das kann man absolut berechtigt kritisieren.

Außerdem gibt es Widersprüchlichkeiten – warum sind Kitas und Schulen zum Teil noch immer geschlossen, aber Restaurants dürfen öffnen? Die Leute werden ungeduldiger. Es kommt natürlich immer darauf an, wo man lebt und in welchen Feldern der Gesellschaft man sich bewegt. Habe ich eine schöne große Wohnung mit Balkon oder lebe ich in beengten Verhältnissen und habe schreiende Kinder zuhause? Da liegen die Nerven natürlich blank. Und dass wir diesen Ausnahmezustand nicht über viele Monate genauso hart aufrechterhalten können wie bisher, das ist klar.

Politik und Mediziner begehen Fehler – müssen mit dieser Ungewissheit müssen leben

FOCUS Online: Aus Ihrer Sicht ist es also der natürliche Gang der Dinge, dass es jetzt zu Protesten kommt?

Ackermann: Ganz genau. Wir dürfen nicht vergessen, dass die jüngere Generation einen derartigen Ausnahmezustand und eine völlig Aufhebung vieler Freiheiten noch nie erlebt hat. Das berührt unser Privatleben, das berührt unser Berufsleben, das berührt den gesamten öffentlichen Raum. Und Ewigkeiten in dieser Isolation zu leben, das geht nicht.

Insofern muss sich die Politik überlegen, wie langsam, aber verantwortungsvoll gelockert wird. Und dafür muss von Regierungsseite mehr geschehen und kommuniziert werden. Breite Tests und Masken für alle sind beispielsweise ganz wichtige Elemente, um zu zeigen, dass damit Lockerungen möglich sind. Auf diese Weise kann die Politik Dampf aus dem Kessel nehmen, um es salopp zu formulieren.

Und: Wir müssen dringend mehr darüber reden, sind diese Maßnahmen verhältnismäßig oder nicht? Darüber muss breit debattiert werden. Ich finde die Debatte darüber, ob man Risikogruppen und alte Menschen „wegsperrt“ unsäglich. Aber trotzdem muss es erlaubt sein, über den Schutz und die Isolierung bestimmter Risikogruppen debattieren zu dürfen. Denn niemand weiß, was der ideale Weg ist – weder Virologen, noch Politiker – niemand war bislang jemals mit einer solchen Situation konfrontiert. Deshalb werden Politik und auch Mediziner Fehler begehen. Mit dieser Ungewissheit müssen wir leben.

„Politik darf Bevölkerung nicht wie Kinder behandeln“

FOCUS Online: Sozialpsychologen warnen, dass viele die Corona-Krise als enormen Kontrollverlust empfinden, sich machtlos fühlen. Wie können wir darauf reagieren?

Ackermann: Auch das hängt vor allem mit einer Zukunftsangst zusammen. Die wirtschaftlichen Folgen stehen uns noch bevor und das löst Angst aus. In Zuge dessen werden dann wieder die unsinnigsten Erklärungsmodelle laut – es ist der böse Kapitalismus, es ist die böse Globalisierung usw. Aber diese Ungewissheit wird uns keine Regierung nehmen können.

Dennoch dürfen wir schon erwarten, dass die Politik aus Berlin transparent ist und dass auch durchaus Fehler eingestanden werden – was kein Zeichen von Schwäche ist – aus Fehlern lernen wir. Das ist ein erwachsener Umgang mit der Bevölkerung. Die Politik darf die Bevölkerung keineswegs in paternalistischer Manier wie Kinder behandeln. Das macht die Menschen zurecht wütend.

Gesellschaftliche Spaltungen sind nicht plötzlich verschwunden

FOCUS Online: Die Ressentiments in der Bevölkerung wachsen, vor allem wittern hier auch Rechtspopulisten ihre Chance – wie gilt es hier gegenzusteuern?

Ackermann: Viele dachten, wenn wir eine solche Krise erleben, sind die alten Polarisierungen weg und die Republik steht einheitlich zusammen, das Mitgefühl wächst und der Konsens wird gefunden. Aber die Konflikte, die wir schon vorher hatten, sind nur still gestellt, sind eingefroren. Gesellschaftliche Spaltungen, die bereits vor der Corona-Krise hatten, werden nicht plötzlich verschwinden.

Genauso wenig wie das Misstrauen gegenüber den Volksparteien verschwinden wird. Die Volksparteien haben sich nicht plötzlich im Zuge der Corona-Krise verwandelt. Auch wenn Angela Merkel wieder beliebter und die CDU im Ansehen gestiegen ist. Das bedeutet, wir haben dieselbe Gemenge-Lage wie zuvor. Auch damals gab es die Polarisierungstendenzen, rechts und links haben sich aufgeschaukelt, es gab Querfronten und Schnittmengen.

Umso wichtiger ist eine Lehre aus diesen Krisen – auch aus der Flüchtlingskrise: Wir müssen eine breite Diskussion in der Mitte der Gesellschaft führen, wo ganz pluralistisch gestritten wird, damit die Ränder rechts und links nicht wieder erstarken. In der Diskussion müssen unterschiedliche Positionen ihren Ort haben – ohne dass einzelne Positionen, die einem nicht so gefallen, gleich weggesperrt werden und deligitmiert werden, indem moralisch darüber geurteilt wird. Denn die Konflikte, die wir hatten, könnten sogar in verschärfter Form wieder zutage treten.

Kluft zwischen Bevölkerung und Politik wächst seit Jahren

FOCUS Online: Wie können wir jetzt schon darauf reagieren?

Ackermann: Das Wichtigste ist, sich bewusst zu machen, welche Spaltungen es vor der Corona-Krise gegeben hat. Zum Beispiel zwischen Stadt und Land. Und sich auch wirklich an die eigene Nase greifen, die Kritik an den Eliten kam nicht nur von Rechts- oder Linkspopulisten, sondern basiert auf einem Misstrauen, das die Kluft zwischen der Bevölkerung und der politischen Klasse in den letzten Jahren immer größer werden ließ.

Es reicht nicht, jetzt im Rahmen der Corona-Krise die Schleusen zu öffnen und nur Geld in alle Richtungen zu geben. Stattdessen muss die Politik gut überlegen, an welchen Stellen Reformen dringend notwendig sind – besonders in Sachen Bürokratieabbau und Digitalisierung.

Transparente Kommunikation ist das Wichtigste

FOCUS Online: Bieten dann gerade die Demonstrationen auch eine Chance für die Politik, künftig anders auf diverse oder gar extreme Positionen einzugehen?

Ackermann: Wichtig ist, sachlich damit umzugehen und nicht mit Denkverboten zu reagieren. Auch die Pegida-Demonstrationen sind am Anfang unterschätzt worden. Da mischte sich einiges – Unmut, aber auch rechte und radikale Positionen innerhalb der AfD. Aber es wurde am Anfang unterschätzt, dass auch ein großer Teil der Bevölkerung nicht mit der Berliner Politik einverstanden war.

Eine ähnliche Situation gab es mit den Gelbwesten in Frankreich. Auch da haben sich Linke und Rechte durchaus zusammengetan. Auch weil in Paris nicht gesehen wurde, wie der Unmut in der Bevölkerung gärt. Und dieser Unmut machte sich dann Luft in lautstarken, radikalisierten Zusammenkünften.

Umso wichtiger ist es, jetzt ernst zu nehmen, dass der Unmut stärker wächst. Ja, es sind radikale Ränder, die jetzt lautstark sind. Aber es gibt eine berechtige Sorge in der ganzen Bevölkerung, was die Einschränkungen der Freiheitsrechte betrifft. Deshalb muss die Politik immer wieder neu begründen, warum sie die Einschränkungen so aufrechterhalten will, wie sie es tut. Wie gesagt, dafür ist eine transparente Kommunikation wichtig. Und es ist schlecht, wie beispielsweise Bundeskanzlerin Angela Merkel über „Öffnungsdebattenorgien“ zu sprechen. Denn das ist, als würde sie sagen, dieser Weg sei alternativlos. Das geht völlig nach hinten los.

FOCUS Online: Welche Wirkungen werden die aktuellen Demonstrationen auf das politische Geschehen haben?

Ackermann: Ich merke, dass sich die Angst und Schockstarre in der politischen Diskussion allmählich löst. Wir sind auf alle neuen Ideen angewiesen, weil alle nicht eine einzige Wahrheit kennen können oder es die eine einzige Lösung geben kann. Das sehen wir schon daran, wie unterschiedlich die Länder mit der Krise umgehen. Die politische Debatte wird wieder diverser, und das ist wichtig.

Buch-Tipp: In ihrem Buch „Das Schweigen der Mitte: Wege aus der Polarisierungsfalle“ plädiert Ulrike Ackermann für eine Rückbesinnung auf antitotalitäre und liberale Traditionen. Um unsere Demokratie aus der Krise herauszuführen, müssten wir die politische Mitte neu besetzen und stärken, argumentiert die Wissenschaftlerin.

Wir müssen unsere Freiheit wieder wertschätzen – Schockstarre durch Corona Virus

Schockstarre durch Coronavirus

Wir müssen unsere Freiheiten wieder wertschätzen

Gastkommentar
Von Ulrike Ackermann
«Alles Hysterie!», hörte man noch vor wenigen Wochen ziemlich häufig. Doch vielen Abwieglern und Verharmlosern des tödlichen Coronavirus sind spätestens seit dem in vielen Ländern verfügten Shutdown, den Grenzschliessungen und nun auch dem Lockdown die Worte versiegt. Die staatlich-administrativ verfügten rigiden Massnahmen zur Bekämpfung der weltweiten Seuche flankieren eine Krise, wie sie die westlichen Demokratien seit Ende des Zweiten Weltkriegs nicht erlebt haben und deren Folgen völlig ungewiss sind – ökonomisch, politisch, gesellschaftlich und die Zukunft der EU betreffend. Es ist der grösste Stresstest, den die liberalen Gesellschaften zu bestehen haben. Angesichts der Wucht der bedrohlichen Pandemie verblassen offensichtlich die jüngst gemachten Krisenerfahrungen und die Debatten darüber:
Finanzkrise, Euro-Schuldenkrise, die islamistischen Terroranschläge, die verheerenden Folgen des Syrien-Krieges, die alte und erneut aufflammende Migrationskrise, der Brexit, die Krise der Volksparteien und der Erfolg rechter und linker Populisten. Selbst die apokalyptischen Rufe, die in der so hitzig-polarisierten Klimadebatte den Weltuntergang prognostizierten, sind im Moment verstummt. Und seltsam entrückt wirkt nun die Aufregung in Deutschland, die den landespolitischen Wirrnissen in Thüringen galt.

Der Populismus wird kleinlauter

Die jetzige Situation ist eine Zeitreise anderer Art: Die Grenzen sind dicht, der öffentliche Raum ist leergefegt, das gesellschaftliche Leben stillgestellt, der freie Austausch von Personen, die Versammlungs-, Bewegungs- und Reisefreiheit sind ausgesetzt. Der Markt und die Produktion geraten ins Stocken, Schlangen bilden sich. So lebte es sich in der geschlossenen Gesellschaft hinter dem Eisernen Vorhang vor 1989, in den kommunistischen Diktaturen – was viele im Westen gar nicht so tragisch fanden. Viele erfahren erstmals in ihrem Leben solch drakonische Einschränkungen ihres Lebensstils und ihrer individuellen Freiheit – und würden doch gerne die Party weiterfeiern. Aus Rücksicht auf diese liebgewonnenen Freiheiten reagierten nicht nur Politiker aus dem fröhlichen Rheinland oder beliebten Skigebieten viel zu zögerlich auf die Pandemie. Inzwischen scheint sich endlich die Einsicht durchgesetzt zu haben, dass unsere Freiheiten und unser Lebensstil, den anspruchsvollsten, den wir je hatten, nur zu halten sind, wenn wir in aussergewöhnlichen Situationen zum Schutz der Gesundheit und des Gemeinwohls bereit sind, temporär auf die Ausübung dieser verfassten Freiheitsrechte zu verzichten. Dies kann natürlich nur zeitlich begrenzt stattfinden, was uns ja von China und anderen Diktaturen unterscheidet. Staatliche Schutzmassnahmen und Sanktionen, die fast ausnahmslos die Volksgesundheit im Blick haben, werden indes nicht ausreichen. Man kann eine Gesellschaft nicht dauerhaft stillstellen, selbst wenn das staatlich-politische Krisenmanagement von der Mehrheit der Bevölkerung bis jetzt akzeptiert wird. Staatsräson und ein Konsens der demokratischen Kräfte jenseits des üblichen Parteiengezänks geben noch den Ton an. Selbst die schon halb verabschiedete Angela Merkel wird von den Deutschen wieder mehr geschätzt. Die politischen Ränder und polternden, populistischen Verächter der repräsentativ-parlamentarischen Demokratie sind kleinlauter geworden, auch der üblich raue Ton in den sozialen Netzwerken mässigt sich im Moment. Es wird dennoch im Zuge dieser Krise zu gesellschaftlichen und politischen Verwerfungen kommen, die tiefer gehen werden als die bisherigen. Man denke an das verheerende Gefälle zwischen Stadt und Land, alter absteigender und neuer aufsteigender Mittelschicht oder die Tabula rasa im gesamten Sektor der Kulturschaffenden aus Kunst, Musik, Literatur und Wissenschaft, die nicht staatlich abgesichert sind. Damit müssen wir uns ohne Denkverbote und Tabus offen und ehrlich auseinandersetzen. Auch wenn die Corona-Krise im Moment noch alte gesellschaftliche und politische Konfliktlinien scheinbar eingefroren hält, werden sie noch vor dem Ende der Krise wieder hervortreten. Im Ausnahmezustand tritt der Streit zwar zurück. Aber ohne diesen gibt es auch keinen Wettbewerb der Ideen und kein produktives Ringen um die besten Lösungen. Eine wachsende Faszination für einen starken Staat und autoritäre Führer konnten wir schon vor der Corona-Krise beobachten. Tatsächlich scheint China, dem wir durch seine anfängliche Vertuschungspolitik die Verbreitung des Virus verdanken, mit seinen rigid-diktatorischen Massnahmen erfolgreich in der Verlangsamung und Eindämmung zu sein. Und von westlichen Krisenmanagern hätte man sich ein ähnlich beherztes Vorgehen wie in Südkorea und Taiwan gewünscht. Sebastian Kurz und Markus Söder wiederum haben mit ihren klaren Ansagen und Umsetzungen Pilotfunktion und sorgen dafür, dass das abhandengekommene Vertrauen in die Volksparteien womöglich wieder wachsen könnte. Was bleibt den Bürgern denn im Moment, als ihren gewählten Vertretern, der staatlichen Administration, dem Funktionieren der Institutionen, dem Rechtsstaat und den medizinischen Experten zu vertrauen? Doch Vertrauen kann ganz schnell wieder schwinden, wenn der Ausnahmezustand und die soziale Distanzierung zu lange währt, die Gesellschaft sich nicht lebendig austauschen, streiten und verständigen kann und auf internetbasierte und fernmündliche Kommunikation eingeschränkt ist. Das leistet der Entstehung von Blasen, ideologischen Gesinnungslagern und altbekannten Polarisierungen erneut Vorschub. Die vor der Corona-Krise konstatierte Erosion des gesellschaftlichen Zusammenhalts ist ja nicht plötzlich verschwunden. Die Schockstarre überdeckt nur, dass die Gesellschaften in den letzten Jahren in immer neue Kollektive zersplittert sind, die für ihre partikularen Gruppeninteressen kämpfen und mit ihrer teilweise rigiden fundamentalistischen Identitätspolitik für eine weitere Fragmentierung der Gesellschaft gesorgt haben. Vergessen wir nicht die Opferkonkurrenzen zwischen ethnischen, religiösen und sexuellen Minderheiten, die unsere Debatten bis eben geprägt haben, die ständige Neigung zu moralisieren und den politischen Gegner damit zu delegitimieren.

Konflikte müssen ausgetragen werden

Erinnern wir uns an den miserablen Zustand der Volksparteien, die Selbstgefälligkeit einer abgehobenen politischen Klasse, ihre Reformunwilligkeit und ihr Zögern, beherzt den Herausforderungen zu begegnen – die geistige Entleerung der Mitte. Es kann also nur besser werden. Es wird nach dieser Krise zumindest einen Digitalisierungsschub geben, auch dies lang angemahnte Versäumnisse. Allerdings sollten wir nicht dem Wunschtraum erliegen, die alten Polarisierungen würden mit dieser Krise weggefegt werden und die Demokratie und ihre Institutionen, die Parteien wie die Zivilgesellschaft würden sich im Zuge ihrer Bewältigung unbeschadet wie der Phönix aus der Asche erheben. Auch ein neuer Gemeinsinn wird nicht so exponentiell ansteigen wie die Kurve der Ansteckung mit dem Virus – auch wenn wir ihn dringend brauchten. Vielleicht lernen wir zumindest, unsere Freiheiten wertzuschätzen, das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden. Westlicher Selbsthass und die Geisselung der Globalisierung führen hingegen in die Sackgasse. Die Austragung von Konflikten, die Pluralität der Meinungen und Interessen, das Austarieren von Gemeinsinn und individueller Freiheit zeichnen unsere liberalen, offenen Gesellschaften aus. Deshalb müssen wir nicht erst nach der Krise, sondern jetzt über Fehler und neue Ideen streiten. Wir müssen die Meinungsfreiheit mutig praktizieren, um zu den besten Lösungen zu gelangen.

Ulrike Ackermann, Politikwissenschafterin und Soziologin, ist Direktorin des John-Stuart-Mill-Instituts für Freiheitsforschung an der Hochschule Heidelberg. Jüngst vonIhr erschienen: «Das Schweigen der Mitte – Wege aus der Polarisierungsfalle». WBG Darmstadt, 2020. Westlicher Selbsthass und die Geisselung der Globalisierung führen in die Sackgasse.

Neue Zürcher Zeitung, 25.03.2020