Die Freiheit, die wir meinen

Deutschlands Werte, seine Freiheit, seine Demokratie und sein Wohlstand ziehen Hundertausende magisch an. Wie sehen die Deutschen selbst derzeit ihre Freiheit – und was ist sie ihnen wert?

Mit der Flüchtlingswelle scheint vielen hierzulande erst klar zu werden, wie begehrt unsere Ecke der Welt ist. Wohlstand, Rechtsstaat, Marktwirtschaft, funktionierende repräsentative Demokratie und die Achtung der Menschenrechte sind so attraktiv, dass Hunderttausende ihr Leben riskieren, um hier neu anzufangen. Wirtschaftsmigranten wollen am westlichen Wohlstand partizipieren, und politische Flüchtlinge begehren genau das, was ihre Peiniger hassen und vernichten wollen: unsere freiheitliche wirtschaftliche und politische Ordnung, den gut ausgestatteten Sozialstaat und unseren modernen westlichen Lebensstil.

Wie hoch halten die Deutschen ihre Freiheit, die westlichen Werte und die Demokratie? Der „Freiheitsindex 2015“ zeigt: Sie sind ihnen wert und wichtig – aber ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung sieht sie auch bedroht. Im Bild die Mahn­wache vor dem Brandenburger Tor im Januar 2015 anlässlich des islamistischen Anschlags auf die Redaktion der Satire­zeitschrift Charlie Hebdo in Paris.

Da kollidieren dann plötzlich unterschiedliche Werte: einerseits das hohe Gut der Freizügigkeit und Mobilität und andererseits der Rechtsstaat, der die Gewährung des politischen Asyls regelt – und der dafür sorgen muss, dass dieses Grundrecht nicht von reiner Wirtschaftsmigration ausgehöhlt und zugleich das staatliche Gewaltmonopol samt sicherer Grenzen aufrechterhalten wird. Die politische Klasse hat diese zu erwartende Völkerwanderung jahrelang kleingeredet und ist nun völlig unvorbereitet. Heute besteht wenigstens ein Konsens darüber, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Die inzwischen beschlossenen Maßnahmen sind zumindest Versuche, nach dem moralisch überschwänglichen „Wir schaffen das“ realpolitische Vernunft walten zu lassen und die Einwanderung ein wenig zu kontrollieren.

Auch wenn Brandanschläge auf Asylbewerberheime verübt und fremdenfeindliche Bekundungen auf den Straßen laut wurden, zeigt sich die Mehrheit der Bevölkerung bis jetzt hilfsbereit und aufgeschlossen gegenüber den Neuankömmlingen. Allerdings: Nicht nur verfolgte Christen und aufgeklärte syrische Ärzte werden einwandern. Wir haben bereits archaisch geprägte Parallelgesellschaften in Deutschland, in denen es Ehrenmorde und Zwangsverheiratungen gibt und der Salafismus sich verbreitet – sie werden mit der Einwanderung aus den arabischen Ländern nicht kleiner.

Doch nicht nur der Islamismus, der gegen den Westen ideologisch und militärisch wütet, oder Wladimir Putin mit seiner neoimperialen Politik bringen die westlichen Werte unter Druck. Auch rechts- und linkspopulistische Parteien und Bewegungen in ganz Europa schüren mit ihrer Globalisierungskritik, mit Antikapitalismus und Antiamerikanismus Zweifel an den Errungenschaften der westlichen Zivilisation. Bis in die Mitte der Gesellschaft reicht die Einschätzung, der Westen habe die Flüchtlingskrise selbst verursacht, aufgrund seiner Kolonialgeschichte und früheren Kriegen. Wie reagieren die Deutschen auf alle diese Herausforderungen?

In der öffentlichen Debatte hat man zuweilen den Eindruck von Freiheitsvergessenheit und Werteschüchternheit. Haben wir denn nicht über Jahrhunderte im Westen mühsam erkämpfte Standards und Lebensstile offensiv zu verteidigen? Nämlich Demokratie, Rechtsstaat, Gewaltenteilung und soziale Marktwirtschaft. Achtung der Menschenrechte, Trennung von Staat und Kirche beziehungsweise Gesellschaft und Religion, Meinungs- und Religionsfreiheit. Schutz von Minderheiten, vor allem die Wertschätzung des Individuums und seiner individuellen Freiheiten gegenüber dem Kollektiv. Freiwillige Bindungen, die nicht auf Zwang beruhen, Gleichberechtigung der Geschlechter, sexuelle Selbstbestimmung. Pluralität der Lebensstile, Toleranz, Skepsis gegenüber alten Gewissheiten. Das Recht auf Irrtum – und nicht zuletzt die diesseitige Lebenslust im Unterschied zu religiöser Jenseitigkeit.

Das John Stuart Mill Institut erhebt mittlerweile seit fünf Jahren den Freiheitsindex Deutschland, der sich aus einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage und einer Medieninhaltsanalyse zusammensetzt und ermittelt, wie es die Deutschen mit der Freiheit und den westlichen Werten halten.

Lag der Index 2014 auf einer Skala, die von -50 bis +50 reicht, bei -7, so stieg er 2015 auf -1. Das bedeutet: Die gesellschaftliche Wertschätzung der Freiheit ist im Vergleich zu den Vorjahren gewachsen. Auch das subjektive Freiheitsgefühl der Bürger ist stärker geworden. Doch in Bezug auf die freie Meinungsäußerung herrscht eine angespannte gesellschaftliche Atmosphäre. Der Anteil derjenigen, die sagen, man könne seine politische Meinung frei äußern, ist auf dem niedrigsten Stand seit 1990. Dass die Freiheit in den Medien stärker in den Fokus gerückt ist, steht im Kontext der islamistischen Attentate Anfang des Jahres 2015 auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo.

Erstmalig haben wir dieses Jahr im Zusammenhang mit dem Index eine Expertenbefragung unter Juristen gemacht, um eine differenzierte Einschätzung des aktuellen und zukünftigen Stellenwertes der Freiheit in der Rechtsprechung zu ermitteln. Das Ergebnis: Den wichtigsten Konflikt sehen sie analog zur Bevölkerungsbefragung zwischen Freiheit und religiösem Fundamentalismus beziehungsweise Terrorbekämpfung.

Über 90 Prozent der deutschen Bevölkerung fühlen sich ganz klar dem Westen zugehörig. 52 Prozent sagen, es gibt eine westliche Kultur, gemeinsame Werte und Vorstellungen, die die westlichen Länder von anderen unterscheiden. Die schärfsten Bedrohungen für die westlichen Werte sehen die Befragten im internationalen Terrorismus (35 Prozent). Danach folgen extremistische Gruppen im Inland (30 Prozent), Ungleichheit zwischen Arm und Reich (27 Prozent) und der Islam (26 Prozent).

Spontan assoziieren die Deutschen mit dem Begriff westliche Werte individuelle Freiheiten und Demokratie. Freie Wahlen (83 Prozent) sowie Presse- und Meinungsfreiheit (80 Prozent) werden am häufigsten genannt, an dritter Stelle steht Religionsfreiheit (75 Prozent). Als zur westlichen Welt zugehörig werden vor allem europäische Länder gerechnet. Die USA rangieren erst hinter Schweden, gefolgt von Griechenland (54 Prozent), Australien und Polen (jeweils 44 Prozent).

Der Aussage, die seinerzeit der ehemalige Bundespräsident Christian Wulff machte und die von Kanzlerin Merkel aufgegriffen wurde, „Der Islam gehört inzwischen zu Deutschland“, stimmen 63 Prozent der Bevölkerung nicht zu (60 Prozent in Westdeutschland, 76 Prozent in Ostdeutschland).

40 Prozent der Befragten haben das Gefühl, dass die westlichen Werte bedroht sind (41 Prozent in Westdeutschland, 34 Prozent in Ostdeutschland). Diese Bedrohungen sind aus Sicht der Bevölkerung vor allem von zwei Kategorien dominiert. Zum einen von der Annahme, es gebe eine zu große Toleranz gegenüber dem Islam beziehungsweise dem islamischen Extremismus und Terrorismus. Zum anderen besteht die Befürchtung, die eigenen Werte zu verlieren. Die Bedrohungen von außen überwiegen dabei jedoch.

Dass endlich eine breite Debatte über unsere westlichen Freiheitswerte und unser kulturelles Selbstverständnis beginnt, ist erfreulich. Denn angesichts der großen Herausforderungen, die Deutschland verändern werden, sollten wir uns dringend darüber verständigen und streiten, was uns unsere mühsam erkämpften Freiheiten wert sind – und vor allem: was davon nicht verhandelbar ist.

Eine notwendig kontrollierte Einwanderung und Asylgewährung  kann denn auch nur glücken, wenn unsere viel beschworene Willkommenskultur erwidert wird von einer umfassenden Integrationswilligkeit der Einwandernden und der umstandslosen Akzeptanz und Anerkennung unserer im Grundgesetz verankerten freiheitlichen Werte. Der attraktive Westen muss, weil er so begehrt ist, Grenzen ziehen, um seine hart erkämpften Werte und Lebensstile zu erhalten und zu bewahren.
DER HAUPTSTADTBRIEF, 30.10.2015


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