Das ist die Freiheit, die wir meinen, in:
Der Hauptstadtbrief. Informations- und Hintergrund-Dienst aus Berlin 139 (2016), S. 18-23
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Das ist die Freiheit, die wir meinen

Gleichberechtigung und Toleranz, Meinungsfreiheit und Selbstbestimmung – der aktuelle „Freiheitsindex“ zeigt, wie wichtig sie den Deutschen 2016 sind

Von Ulrike Ackermann

12.12.2016 – DER HAUPTSTADTBRIEF 139

Prof. Dr. Ulrike Ackermann ist Gründerin und Direktorin des John Stuart Mill Instituts für Freiheitsforschung in Heidelberg. Für den HAUPTSTADTBRIEF beschreibt sie die Ergebnisse für 2016 des jährlich durch das Institut erhobenen „Freiheitsindex Deutschland“, der ermittelt, wie die Deutschen zur Freiheit und zu den westlichen Werten stehen.

Der Wert der Freiheit gilt etwas in Deutschland. Zum sechsten Mal hat das John Stuart Mill Institut in Zusammenarbeit mit dem Institut für Demoskopie Allensbach und der Medienagentur mct eine jährliche Repräsentativumfrage durchführt, ergänzt durch eine Medieninhaltsanalyse überregionaler Printmedien. Das Ergebnis unseres „Freiheitsindex“ für 2016: Im Vergleich zum Vorjahr hat die Wertschätzung der Freiheit leicht zugenommen.

Anknüpfend an unseren letztjährigen Schwerpunkt über die westlichen Werte vor dem Hintergrund der Einwanderungs- und Asyldebatte ging es uns in diesem Jahr um den westlichen Lebensstil, der in diesen Werten gründet. Auch dies beleuchten wir aus aktuellem Anlass, denn Werte und Lebensstil geraten zunehmend von verschiedenen Seiten aus unter Beschuss: Islamische Terroristen führen ihren selbsterklärten Krieg gegen den Westen und die freie Vielfalt seiner Lebensentwürfe. Moskau führt einen Propagandafeldzug gegen westliche Liberalität und „Dekadenz“, besonders gegen Homosexualität. In ganz Europa bedienen rechts- und linkspopulistische Bewegungen und Parteien antiwestliche Ressentiments, die die Freiheit des westlichen Lebensstils in Frage stellen.

Was ist das Besondere dieses Lebensstils? Gerahmt und gestützt wird er von Demokratie, Rechtsstaat, Gewaltenteilung und sozialer Marktwirtschaft. Neben der Achtung der Menschenrechte, der Trennung von Staat und Kirche beziehungsweise von Gesellschaft und Religion zählen Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Religionsfreiheit, Schutz von Minderheiten und die Wertschätzung des Individuums und seiner individuellen Freiheiten gegenüber dem Kollektiv zu seinem Wertekanon. Untrennbar mit dem westlichen Lebensstil verbunden sind unter anderem: Gleichberechtigung der Geschlechter, Bindungen zwischen Menschen allein auf der Basis von Freiwilligkeit, sexuelle Selbstbestimmung, Toleranz, Skepsis gegenüber althergebrachten Gewissheiten und das Recht auf Irrtum.

Ebenso feste Bestandteile des westlichen „Way of Life“ sind die diesseitige Lebenslust im Gegensatz zu religiöser Jenseitigkeit, sind Tanzen, Singen, Lachen und Trinken im öffentlichen Raum – kurzum: der Hedonismus des 21. Jahrhunderts und das individuelle Streben nach dem Glück. Darf, soll, ja muss man nach terroristischen Attacken auf diese öffentlich gelebte Lebenslust wie denen auf das Konzerthaus „Bataclan“ in Paris im November 2015 oder auf den Nachtclub „Pulse“ in Orlando in den USA im Juni 2016 jetzt erst recht unbeirrt und offensiv weiter tanzen, lachen und trinken als ein Akt der Verteidigung des westlichen Lebensstils?

Die Diskussionen darüber, ebenso wie über die Frage, ob der Begriff „westliche Werte“ eigentlich überhaupt zuträglich, ob er nötig oder ob er gar überflüssig sei, hat westliche Selbstzweifel im Hinblick auf unsere normativen Grundlagen und die damit verbundenen Lebensstile offenbar werden lassen. Die Propagierung religiöser Werte als weltlichen Vergnügungen überlegen und die Kritik an westlicher „Dekadenz“, beide überwiegend von außen an Deutschland herangetragen, ebenso wie verschiedene Spielarten von Konsum-, Wachstums- und Kapitalismuskritik, von Kulturpessimismus und Fortschrittsskepsis von rechts wie von links, die ihren Ursprung im Westen selbst haben, sind nicht neu – aber sie sind lauter zu vernehmen als früher.

Deshalb haben wir neben dem festen Fragenkatalog des „Freiheitsindex“ – mit seiner Kernfrage „Wie halten es die Deutschen mit der Freiheit?“ – für 2016 Fragen zum Schwerpunkt „westlicher Lebensstil“ eingearbeitet. Wir wollten wissen: Ist sich die Bevölkerung dieses Lebensstils bewusst? Was macht diesen Lebensstil aus? Und: Ist die Gesellschaft bereit, ihn zu verteidigen?

Die Kernfrage „Wie halten es die Deutschen mit der Freiheit?“ setzt sich zusammen aus Fragen wie: Wie definieren die Bürger für sich die Freiheit? Ist ihnen Selbstbestimmung wichtiger als soziale Gleichheit oder überwiegt das Sicherheitsbedürfnis? Was erwarten sie vom Staat? Soll er sich heraushalten aus ihrem Alltagsleben oder sich stärker kümmern? Und: Wie berichten vergleichend dazu die Medien über Freiheit?

Der Index bildet den aktuellen Zustand der politischen und individuellen Freiheit in einer Zahl ab. Relevant für die Messung ist dabei der Faktor Zeit – nämlich wie sich der von uns ermittelte Indikator im Verlauf der Jahre auf der Skala nach oben oder unten verschiebt. Für das Jahr 2016 können wir im Vergleich zum Vorjahr eine aufsteigende Entwicklung verzeichnen: Lag der Index 2015 auf einer Skala zwischen −50 und +50 bei −1, so stieg er jetzt auf +0,33. Im sechsten Jahr zeigt sich zunehmend, dass wir mit diesem Index ein solides Instrument entwickelt haben, das uns eine längerfristige Qualität in den jährlich zu vergleichenden Ergebnissen liefert.

Unser Index setzt sich aus zwei Komponenten zusammen: Zum einen ist das eine repräsentative Bevölkerungsumfrage auf der Grundlage von rund 1450 Einzelinterviews des Allensbacher Instituts. Der Fragenkatalog mit insgesamt 13 Fragenkomplexen erfasst die subjektive Bedeutung des Werts der Freiheit auf Seiten der Bürger in den Bereichen:

  1. gesellschaftliche Wertschätzung des Werts der Freiheit im Wettbewerb mit anderen Werten wie beispielsweise Gleichheit, Sicherheit, Gerechtigkeit;
  2. subjektives Freiheitsempfinden der Bürger;
  3. Staatsorientierung, Einstellung zu Verboten und staatlichen Interventionen, soziale Kontrolle.

Die zweite Komponente liefert die quantitative Inhaltsanalyse führender Nachrichtenprintmedien. Mit Hilfe eines Code-Buchs und sogenannter inhaltlicher Frames wird der Stellenwert der Freiheit in der Medienberichterstattung im Vergleich zu anderen Werten ermittelt.

Die Wertschätzung der Freiheit insgesamt, gemessen in der diesjährigen Gesamtzahl mit +0,33, ist also im Vergleich zu den Vorjahren gestiegen. Die Trends im allgemeinen Teil des Indexes haben sich verstetigt. Die gesellschaftliche Wertschätzung der Freiheit bewegt sich zwar noch im Rahmen der Vorjahre, allerdings auf der unteren Bandbreite. Demgegenüber nimmt die Sehnsucht nach Gleichheit deutlich zu. Auch die Forderung nach Verboten nimmt wieder leicht zu. Das subjektive Freiheitsgefühl hingegen ist stärker geworden als im letzten Jahr.

In Bezug auf die freie Meinungsäußerung allerdings herrscht eine noch angespanntere gesellschaftliche Atmosphäre als 2015. Der Anteil der Befragten, die sagen, man könne in Deutschland seine politische Meinung frei äußern, ist auf dem niedrigsten Stand seit 1990 (siehe Infografik „Wachsende Vorsicht“). Dieser sich seit Jahren fortsetzende Negativtrend ist überaus beunruhigend. Die Medieninhaltsanalyse zeigt, dass wie in den Vorjahren die Perspektive des Verbots gegenüber der Selbstbestimmung dominiert. Die untersuchten Medien sehen für den westlichen Lebensstil eine mittlere Gefahrenlage. Interessant ist, dass sich die Kluft zwischen Medien- und Bevölkerungsperspektive im Hinblick auf den Wert der Freiheit nicht vergrößert hat. Stattdessen kehrt sich das Verhältnis um: Der Zunahme der Freiheitsperspektive auf Seiten der Medien ist es zu verdanken, dass der Indexwert insgesamt ganz leicht über Null und damit ins Positive wuchs.

Die Schwerpunktbefragung zum Thema „westlicher Lebensstil“ hat sehr interessante Ergebnisse erbracht. 64 Prozent der Befragten gehen von der Existenz eines besonderen westlichen Lebensstils aus. Demokratie, Rechtsstaat und Freiheitsrechte zählen zu seinen Kernelementen. An erster Stelle steht bei der Charakterisierung des westlichen Lebensstils die Gleichberechtigung der Geschlechter, gefolgt von der Meinungs-, Presse- und Redefreiheit, den Freiheitsrechten im Allgemeinen und der Freiheit der individuellen Lebensgestaltung. (Siehe Infografik „Westlicher Lebensstil – was ist das eigentlich?“) Das heißt, neben der Gleichberechtigung wird die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Lebensentwürfe ausdrücklich als Kennzeichen des westlichen Lebensstils gewürdigt. Über das Ausmaß der Gefährdung dieses Lebensstils ist sich die Bevölkerung unsicher. Als Gefährdungsursachen genannt werden vor allem die Zuwanderung, der Islam und Terroranschläge – allesamt Bedrohungen, die von außen kommen.

Im Langzeittrend ist in diesem Zusammenhang eine Rückkehr zu klassischen bürgerlichen Tugenden zu beobachten. Als Erziehungsziele werden an erster Stelle Höflichkeit und gutes Benehmen genannt, gefolgt von Verantwortung für das eigene Handeln, Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit und Hilfsbereitschaft. 40 Prozent der Befragten betrachten das Leben in erster Linie als eine Aufgabe – fast ebenso viele, nämlich 39 Prozent, wollen das Leben vor allem genießen. Das heißt: Hedonismus und Selbstverpflichtung halten sich als Lebensvorstellung nahezu die Waage und stehen nicht in Widerspruch zueinander.

Um den Zeitgeist zu erspüren, eignet sich besonders gut das Fragenmodell, was zur Zeit „in“ und was „out“ ist – das Allensbacher Institut wendet es seit den 1980er-Jahren an. In der In-Liste führen gegenwärtig Bio-Produkte, gefolgt von Fitness, Sport treiben und gesunder Ernährung. Erst dann kommen Lebensgenuss und Karriere. Die Freiheit ist in dieser Rangfolge dem Umweltschutz nachgeordnet. Wohlgemerkt: Dieses Fragenmodell misst nicht die eigene Meinung oder das Verhalten der Befragten, sondern das allgemeine gesellschaftliche Meinungsklima. Wie weit Trends und Lebenswirklichkeit auseinanderklaffen können, zeigt beispielsweise der Umstand, dass der reale Anteil von Bioprodukten am gesamten Lebensmittelumsatz bei nur 4 Prozent liegt.

In der Medienanalyse zeigt sich, dass in den überregionalen Printmedien der westliche Lebensstil erstaunlich kritisch gesehen wird. In der Medizin-, Gesundheits-, Wellness- und Ernährungsberichterstattung wird ihm häufig zur Last gelegt, selbst Krankheitsursache zu sein. Weit über bewusst zivilisationskritische Beiträge hinaus gilt er als Verursacher ökologischer Probleme, sozialer Ungerechtigkeit und neuer Gefahrenszenarien, indem er dem Terrorismus ein unmittelbares Angriffsziel liefert. Oft sind Nennung und Beschäftigung mit dem Begriff „westlicher Lebensstil“ verknüpft mit der Aufforderung zu Veränderung, Abkehr und Wandel.

Dieser Befund aus der Medieninhaltsanalyse deckt sich indessen ganz offensichtlich nicht mit breit geteilten Auffassungen in der Bevölkerung. Auch wenn es Unsicherheit im Hinblick auf die Bedrohung des westlichen Lebensstils gibt, ist dessen Wertschätzung insgesamt groß. Die Gleichberechtigung der Geschlechter und die Pluralität der Lebensstile ist den Deutschen viel wert, ebenso wie die Freiheitsrechte insgesamt – vor allem aber die Freiheit, sein persönliches Leben selbstverantwortlich gestalten zu können. Das ist ein erfreulicher Befund, der trotz der schwierigen Weltenlage und den anhaltenden Angriffen auf unsere Lebensweise im Westen Anlass zu Optimismus gibt.

Mehr zum Freiheitsindex Deutschland, den das John Stuart Mill Institut, dessen Direktorin unsere Autorin Ulrike Ackermann ist, seit 2011 jährlich in Zusammenarbeit mit dem Institut für Demoskopie Allensbach und der Medienagentur mct erhebt und veröffentlicht, hält die Website des Instituts bereit: www.mill-institut.de/forschung/freiheitsindex