Wie wehrhaft ist das liberale Bekenntnis?

Deutschlandradio Kultur, 01.08.2016

Die liberale Gesellschaft müsse sich dem Hass auf den westlichen Lebensstil stellen, der gleichermaßen von Islamisten und Populisten geschürt werde. Weshalb die Heidelberger Politologin Ulrike Ackermann eine tabulose Diskussion des Wertekanons fordert.

Explosiver Hass schlägt dem Westen entgegen. Gebrandmarkt wird sein Individualismus, sein Materialismus und Hedonismus, die Sexualität und ihr Urbild, der weibliche Körper.

Junge Männer und Frauen führen einen Krieg gegen Freiheiten, Moderne und westlichen Lebensstil, aus dem sie selbst hervorgegangen sind, bevor sie Islamisten wurden. Sie berauschen sich an ihrer göttlichen Mission, die ihnen den Austritt aus einer sinnentleerten, profanen westlichen Welt und den Eintritt ins Paradies, ins Reich der Jungfrauen bescheren soll.

Kampf gegen die Wertschätzung des Individuums

Besonders dem Gottlosen gilt der Hass, er soll vernichtet werden, um den Weg frei zu machen für die religiöse Gemeinschaft der Umma, die globale Herrschaft des Kalifats. Darin gilt das Individuum nichts und das Kollektiv alles.

Frankreich ist besonders im Visier der Islamisten – nicht nur, weil es militärisch im Syrienkrieg involviert ist. Oder weil die Gefährder-Szene in den Banlieues größer ist als in den Nachbarländern. Angegriffen wird das Land, weil es die Geburtsstätte der Freiheitsrechte von Verfassungsrang ist.

Demokratie, Rechtsstaat, Gewaltenteilung und soziale Marktwirtschaft sind ebenso Elemente des westlichen Wertekanons wie Achtung der Menschenrechte, Trennung von Staat und Kirche, Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit und Schutz von Minderheiten und vor allem die Wertschätzung des Individuums gegenüber dem Kollektiv, aus welcher sich das Prinzip der Selbstverantwortung und die Chance zur Selbstbestimmung ableiten.

Kollektivismus des politischen Islam und totalitärer Diktaturen

Die demokratisch säkulare Ordnung ist damit das Gegenteil einer Umma, wie sie der politische Islam anstrebt oder eines Kollektivismus, der totalitären Diktaturen eigen war und ist. Deswegen ist der weltanschauliche Dissens über die Qualität der Menschenrechte so alt und so grundlegend.

Aus gutem Grunde handelt es sich explizit um Individual- und nicht um Kollektivrechte. Westliche Lebensweise bedeutet:  freiwillige Bindungen, die nicht auf Zwang beruhen, Gleichberechtigung der Geschlechter, sexuelle Selbstbestimmung, die Pluralität der Lebensstile, Toleranz, Skepsis gegenüber alten Gewissheiten, ein Recht auf Irrtum, Selbstkritik, die individuelle Suche nach dem Glück und nicht zuletzt die diesseitige Lebenslust im Unterschied zu religiöser Jenseitigkeit.

Der westliche Lebensstil gehört zu den anspruchsvollsten, den wir je hatten. Er gerät immer stärker unter Beschuss. Nicht zum ersten Mal in der Neuzeit. Wieder stellt sich Demokraten die Frage, ob ein liberales Bekenntnis allein zum „Genussmittel“, zu Jedermanns „Laisser faire“ taugt oder nicht ebenso zu „wehrhafter Selbstverteidigung“ zwingt. Darin scheinen Franzosen zuweilen strenger als Deutsche.

Verteidigung des Wertekanons der liberalen Gesellschaft

Allzu lange hat zum einen die politische Klasse die Abschottung der bei uns entstandenen Parallelgesellschaften, in denen es bis heute Ehrenmorde, Zwangsverheiratung und Frauenverachtung gibt, sowie die immense Zunahme des Salafismus verharmlost.

Und zum anderen machen sich neben dem offensiven Hass auf den Westen auch unter Europäern Selbstzweifel an den Errungenschaften der westlichen Freiheiten breit – eine Skepsis, die weit hinein in die Mitte der Gesellschaft reicht und sich nicht auf den Populismus des rechten oder linken Rands beschränkt. Sie wird bereits als konservative Revolution wahrgenommen.

Umso wichtiger ist es, sich ohne Tabus oder Diskussionsverbote zu vergewissern, was eine offene, eine liberale Gesellschaft ausmacht, was sie zusammenhält und was nicht verhandelbar ist. Anders werden wir unseren freiheitlichen Lebensstil nicht verteidigen und bewahren können.