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Wir müssen unsere Freiheit wieder wertschätzen – Schockstarre durch Corona Virus

Schockstarre durch Coronavirus

Wir müssen unsere Freiheiten wieder wertschätzen

Gastkommentar
Von Ulrike Ackermann
«Alles Hysterie!», hörte man noch vor wenigen Wochen ziemlich häufig. Doch vielen Abwieglern und Verharmlosern des tödlichen Coronavirus sind spätestens seit dem in vielen Ländern verfügten Shutdown, den Grenzschliessungen und nun auch dem Lockdown die Worte versiegt. Die staatlich-administrativ verfügten rigiden Massnahmen zur Bekämpfung der weltweiten Seuche flankieren eine Krise, wie sie die westlichen Demokratien seit Ende des Zweiten Weltkriegs nicht erlebt haben und deren Folgen völlig ungewiss sind – ökonomisch, politisch, gesellschaftlich und die Zukunft der EU betreffend. Es ist der grösste Stresstest, den die liberalen Gesellschaften zu bestehen haben. Angesichts der Wucht der bedrohlichen Pandemie verblassen offensichtlich die jüngst gemachten Krisenerfahrungen und die Debatten darüber:
Finanzkrise, Euro-Schuldenkrise, die islamistischen Terroranschläge, die verheerenden Folgen des Syrien-Krieges, die alte und erneut aufflammende Migrationskrise, der Brexit, die Krise der Volksparteien und der Erfolg rechter und linker Populisten. Selbst die apokalyptischen Rufe, die in der so hitzig-polarisierten Klimadebatte den Weltuntergang prognostizierten, sind im Moment verstummt. Und seltsam entrückt wirkt nun die Aufregung in Deutschland, die den landespolitischen Wirrnissen in Thüringen galt.

Der Populismus wird kleinlauter

Die jetzige Situation ist eine Zeitreise anderer Art: Die Grenzen sind dicht, der öffentliche Raum ist leergefegt, das gesellschaftliche Leben stillgestellt, der freie Austausch von Personen, die Versammlungs-, Bewegungs- und Reisefreiheit sind ausgesetzt. Der Markt und die Produktion geraten ins Stocken, Schlangen bilden sich. So lebte es sich in der geschlossenen Gesellschaft hinter dem Eisernen Vorhang vor 1989, in den kommunistischen Diktaturen – was viele im Westen gar nicht so tragisch fanden. Viele erfahren erstmals in ihrem Leben solch drakonische Einschränkungen ihres Lebensstils und ihrer individuellen Freiheit – und würden doch gerne die Party weiterfeiern. Aus Rücksicht auf diese liebgewonnenen Freiheiten reagierten nicht nur Politiker aus dem fröhlichen Rheinland oder beliebten Skigebieten viel zu zögerlich auf die Pandemie. Inzwischen scheint sich endlich die Einsicht durchgesetzt zu haben, dass unsere Freiheiten und unser Lebensstil, den anspruchsvollsten, den wir je hatten, nur zu halten sind, wenn wir in aussergewöhnlichen Situationen zum Schutz der Gesundheit und des Gemeinwohls bereit sind, temporär auf die Ausübung dieser verfassten Freiheitsrechte zu verzichten. Dies kann natürlich nur zeitlich begrenzt stattfinden, was uns ja von China und anderen Diktaturen unterscheidet. Staatliche Schutzmassnahmen und Sanktionen, die fast ausnahmslos die Volksgesundheit im Blick haben, werden indes nicht ausreichen. Man kann eine Gesellschaft nicht dauerhaft stillstellen, selbst wenn das staatlich-politische Krisenmanagement von der Mehrheit der Bevölkerung bis jetzt akzeptiert wird. Staatsräson und ein Konsens der demokratischen Kräfte jenseits des üblichen Parteiengezänks geben noch den Ton an. Selbst die schon halb verabschiedete Angela Merkel wird von den Deutschen wieder mehr geschätzt. Die politischen Ränder und polternden, populistischen Verächter der repräsentativ-parlamentarischen Demokratie sind kleinlauter geworden, auch der üblich raue Ton in den sozialen Netzwerken mässigt sich im Moment. Es wird dennoch im Zuge dieser Krise zu gesellschaftlichen und politischen Verwerfungen kommen, die tiefer gehen werden als die bisherigen. Man denke an das verheerende Gefälle zwischen Stadt und Land, alter absteigender und neuer aufsteigender Mittelschicht oder die Tabula rasa im gesamten Sektor der Kulturschaffenden aus Kunst, Musik, Literatur und Wissenschaft, die nicht staatlich abgesichert sind. Damit müssen wir uns ohne Denkverbote und Tabus offen und ehrlich auseinandersetzen. Auch wenn die Corona-Krise im Moment noch alte gesellschaftliche und politische Konfliktlinien scheinbar eingefroren hält, werden sie noch vor dem Ende der Krise wieder hervortreten. Im Ausnahmezustand tritt der Streit zwar zurück. Aber ohne diesen gibt es auch keinen Wettbewerb der Ideen und kein produktives Ringen um die besten Lösungen. Eine wachsende Faszination für einen starken Staat und autoritäre Führer konnten wir schon vor der Corona-Krise beobachten. Tatsächlich scheint China, dem wir durch seine anfängliche Vertuschungspolitik die Verbreitung des Virus verdanken, mit seinen rigid-diktatorischen Massnahmen erfolgreich in der Verlangsamung und Eindämmung zu sein. Und von westlichen Krisenmanagern hätte man sich ein ähnlich beherztes Vorgehen wie in Südkorea und Taiwan gewünscht. Sebastian Kurz und Markus Söder wiederum haben mit ihren klaren Ansagen und Umsetzungen Pilotfunktion und sorgen dafür, dass das abhandengekommene Vertrauen in die Volksparteien womöglich wieder wachsen könnte. Was bleibt den Bürgern denn im Moment, als ihren gewählten Vertretern, der staatlichen Administration, dem Funktionieren der Institutionen, dem Rechtsstaat und den medizinischen Experten zu vertrauen? Doch Vertrauen kann ganz schnell wieder schwinden, wenn der Ausnahmezustand und die soziale Distanzierung zu lange währt, die Gesellschaft sich nicht lebendig austauschen, streiten und verständigen kann und auf internetbasierte und fernmündliche Kommunikation eingeschränkt ist. Das leistet der Entstehung von Blasen, ideologischen Gesinnungslagern und altbekannten Polarisierungen erneut Vorschub. Die vor der Corona-Krise konstatierte Erosion des gesellschaftlichen Zusammenhalts ist ja nicht plötzlich verschwunden. Die Schockstarre überdeckt nur, dass die Gesellschaften in den letzten Jahren in immer neue Kollektive zersplittert sind, die für ihre partikularen Gruppeninteressen kämpfen und mit ihrer teilweise rigiden fundamentalistischen Identitätspolitik für eine weitere Fragmentierung der Gesellschaft gesorgt haben. Vergessen wir nicht die Opferkonkurrenzen zwischen ethnischen, religiösen und sexuellen Minderheiten, die unsere Debatten bis eben geprägt haben, die ständige Neigung zu moralisieren und den politischen Gegner damit zu delegitimieren.

Konflikte müssen ausgetragen werden

Erinnern wir uns an den miserablen Zustand der Volksparteien, die Selbstgefälligkeit einer abgehobenen politischen Klasse, ihre Reformunwilligkeit und ihr Zögern, beherzt den Herausforderungen zu begegnen – die geistige Entleerung der Mitte. Es kann also nur besser werden. Es wird nach dieser Krise zumindest einen Digitalisierungsschub geben, auch dies lang angemahnte Versäumnisse. Allerdings sollten wir nicht dem Wunschtraum erliegen, die alten Polarisierungen würden mit dieser Krise weggefegt werden und die Demokratie und ihre Institutionen, die Parteien wie die Zivilgesellschaft würden sich im Zuge ihrer Bewältigung unbeschadet wie der Phönix aus der Asche erheben. Auch ein neuer Gemeinsinn wird nicht so exponentiell ansteigen wie die Kurve der Ansteckung mit dem Virus – auch wenn wir ihn dringend brauchten. Vielleicht lernen wir zumindest, unsere Freiheiten wertzuschätzen, das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden. Westlicher Selbsthass und die Geisselung der Globalisierung führen hingegen in die Sackgasse. Die Austragung von Konflikten, die Pluralität der Meinungen und Interessen, das Austarieren von Gemeinsinn und individueller Freiheit zeichnen unsere liberalen, offenen Gesellschaften aus. Deshalb müssen wir nicht erst nach der Krise, sondern jetzt über Fehler und neue Ideen streiten. Wir müssen die Meinungsfreiheit mutig praktizieren, um zu den besten Lösungen zu gelangen.

Ulrike Ackermann, Politikwissenschafterin und Soziologin, ist Direktorin des John-Stuart-Mill-Instituts für Freiheitsforschung an der Hochschule Heidelberg. Jüngst vonIhr erschienen: «Das Schweigen der Mitte – Wege aus der Polarisierungsfalle». WBG Darmstadt, 2020. Westlicher Selbsthass und die Geisselung der Globalisierung führen in die Sackgasse.

Neue Zürcher Zeitung, 25.03.2020